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KRAFTWERK

Die Mensch-Maschine radelt wieder

Ihre elektronische Musik bildete in den’70ern die Grundlage unserer heutigen Tanzmusik von Techno bis House. Auch der HipHop hat seine Wurzeln im Schaffen von KRAFTWERK. Mit dem Album «Tour de France soundtracks» ist nun das erste Album der vier Düsseldorfer seit 1985 erschienen.

kraftwerk
Foto: Capitol Germany, Peter Boettcher

Es ist nicht nur die ausschliessliche Verwendung von Elektronik, welche das einzigartige Klangbild von KRAFTWERK begründen. Ihre Musik bewegt sich in der Grenze zwischen dem Melodiereichtum des deutschen Liedguts und der Avantgarde. Sie vermittelte stets ein Bild einer intakten und modernen Zukunft, war aber immer auch mit einem Schleier von Nostalgie überzogen. Der Stolz auf deutsche Errungenschaften, vom breiten Rundfunknetz, den Autobahnen oder dem damals modernsten Zug prägte die Inhalte ihrer Texte, Texte, die sie, wie sie in einem ihrer seltenen Interviews erklärten, wie jedes Instrument als Element des Gesamtkunstwerks einsetzten. Charakteristisch für KRAFTWERK war auch stets die Reduktion aufs Minimum, aufs absolut notwendige.

KRAFTWERK waren nicht nur Pioniere der Technomusik, sie waren auch Wegbereiter des Hiphop. Der New Yorker DJ und MC AFRICA BAMBAATAA rappte über KRAFTWERKs «Trans Europa Express». Sein daraus entstandener Titel «Planet rock» war 1981 der Beginn des HipHop und des Samplings, d.h. des Entnehmens von Songfragmenten für eigene Tracks. KRAFTWERK sind bis heute die meistgesampelten Künstler. Sie waren auch die ersten, welche gerichtlich einen Teil der Einnahmen anderer durch das «Klauen» ihres Materials erstritten.

Während sich ihre Versatzstücke verbreiteten, wurde es um sie selber immer ruhiger. Als sie 1991 ihre Best-of-Compilation «The mix» auf den Markt brachten, kündigten sie gleichzeitig ein neues Album an. KRAFTWERK-Fans warteten… bis 1999. KRAFTWERK erhielten für 400'000 Mark den Auftrag, das Sounddesign für die Weltausstellung «Expo 2000» in Hannover zu kreieren. Anstatt eines Albums mussten die Fans mit einer mittelmässigen Single, die zudem stark an «Trans Europa Express» erinnerte, Vorlieb nehmen. Den weiteren Albumankündigungen der Herren aus Düsseldorf wurde keinen Glauben mehr geschenkt.

Vor einem Monat schneite es dann aber plötzlich, wie aus heiterem Himmel die CD «Tour de France Soundtracks» in die Läden. Das KRAFTWERK-mässig unterkühlte Album vermag aber niemanden zu überraschen. Das an und für sich schön anzuhörende Werk ist ideenlos und für Kenner lediglich eine Wiederaufbereitung alter Muster mit neuer Digitaltechnik. Sogar das Cover ist nicht neu.

«Tour de France» war schon 1983 als Single erschienen. Der Radsport war schon zu jenen Zeiten die geheime Leidenschaft der KRAFTWERK-Köpfe RALF HÜTTER und FLORIAN SCHNEIDER, sehr zum Leidwesen ihrer damaligen Bandkollegen. Wie in ihrem KLING-KLANG-Tonstudio musste auch in ihrer Garage stets die neuste Errungenschaft der Technik stehen. Die Velofaszination liess nach 1985 das musikalische Schaffen auf der Strecke und war schlussendlich der Grund für die Funkstille nach dem letzten Album «Electric Café».

Der Frust der beiden Mitmusiker KARL BARTOS und WOLFGANG FLÜR sass tief. FLÜR stieg aus und führte in seinem Buch «Ich war ein Roboter» die Radversessenheit und die damit verbundene Produktionsfaulheit von HÜTTER und SCHNEIDER als Grund für seinen Ausstieg aus. Kurz nach dessen Veröffentlichung liessen HÜTTER und SCHNEIDER FLÜRs Buch gerichtlich verbieten. Der Lack des Mythos KRAFTWERK könnte bröckeln. Anfang ’90er stieg dann auch BARTOS aus und verfolgte dann eine Solokarriere.

HÜTTER und SCHNEIDER pflegten zuvor und von da an verstärkt ihr Image als unnahbare – eben Mensch-Maschinen. Sie gaben keine Interviews, liessen sich durch Roboter vertreten und lehnten Zusammenarbeitsanfragen gestandener Popgrössen konsequent ab.

Vielleicht wäre es besser gewesen, damals das Ende KRAFTWERKs zu verkünden. Nach «Musique non Stopp» stoppet die KRAFTWERK-Musique. Sie hatten den höchsten Futuristikgrad erreicht. Eine Steigerung ging nicht mehr. Andere Bands wie HEAVEN 17, DEPECHE MODE oder OMD hatten ihren den technischen Vorsprung von eingeholt.  Während in den ’70er Jahren die Fachleute von ROLAND ihre Klanvorstellung zuerst umsetzen mussten, waren Sythesizer in den ’80ern zur Massenware geworden. Die Zeit der Innovationen war vorbei und sie kommt, zumindest für KRAFTWERK wahrscheinlich nicht mehr zurück. Dieser Eindruck bestätigt zumindest das Anhören ihres neusten Albums.

Album: «Tour de France Soundtracks» (Capitol / Emi)
www.kraftwerk.com


Der KRATWERK Backkatalog

Minutenmässig brachten es die Mensch-Maschinen in den über 30 Jahren ihres elektronischen Schaffens nicht auf die grosse Zahl. In der Vor-CD-Ära war ein Album schon mit 40 Minuten voll. Abgesehen von ihren Frühwerken vor 1974 wurden aber sämtliche ihrer Platten zu akustischen Denkmälern, die bis heute und auch in Zukunft in jedem Plattenladen der Welt zu finden (oder zu bestellen) sind. Ausser «Autobahn» sind alle auch in einer englischsprachigen Version erschienen.

1974: «Autobahn»
Der vermeintliche Erstling von KRAFTWERK läutete eine neue Ära in der Geschichte der Popmusik ein. Erstmals wurde ein Album vollständig mit elektronischen Klangerzeugern eingespielt. Das Titelstück «Autobahn» ist eine 22-minütige Huldigung derselben. Man beachte die damals modernen Autos auf dem Cover.

1975: «Radioaktivität»
Der ungebremste Zukunftsglauben der Oberstromer liess sie neben dem damals noch Empfangsschwachen Mono-Mittelwellen-Radio auch die Kernspaltung zelebrieren. Die einmalige klangliche Aura des Titelsongs ist bis heute einmalig geblieben.

1977: «Trans Europa Express»
KRAFTWERK entdecken den Beat. Der Titelsong beschreibt Europas Luxuszg in Text und Rhythmus. Jahre später macht AFRIKA BAMBAATAA daraus den ersten HipHop-Track. Auch schön – oder analog einer Textzeile daraus – elegant und dekandent: Die Europahymne «Europa Endlos».

1978: «Die Mensch Maschine»
«Das Modell» wird der erste Singlehit der Düsseldorfer – allerdings erst viel später 1981, während dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle. Deren Einflüsse stammen einerseits vom britischen Punk und adrerseits von KRAFTWERK. Auch ein Klassiker: «Wir sind die Roboter».

1981: «Computerwelt»
Und wieder preisen KRAFTWERK eine Symbol für Fortschritt. Diesmal ist es der Computer – allerdings in einer für unsere Augen sehr antiquierten Ausführung. Fragmente aus «Heimcomputer» und «Nummern» werden zu den beliebtesten Samples der späteren Technoproduzenten.

1985: «Electric Café»
Die Zukunft ist erreicht. KRAFTWERKs Musik (und auch ihr Auftreten) erreicht surreale Sphären. Mit «Musique non Stopp» schaffen sie nochmals einen Klassiker. Es sollte ihr letzter sein. Dem Rest des Album fehlt es am Witz und Ideenreichtung früherer Werke.

1991: «The mix»
Eine Best-of war überfällig. Gleichzeitig habe sie ihr Material überarbeitet und remixt. Der technikbedingte Bassmangel von früher wurde nun behoben. Neues Wissen führte zu neuen Texten. Statt «Radioaktivität, wenn’s um unsere Zukunft geht» heisst es jetzt «Stopp Radioaktivität, weil’s um unsere Zulunft geht.»

2003: «Tour de France soundtracks»
Ihr erster Nr.-1-Hit in Deutschland. Erstmals produzierten KRAFTWERK digital. Ansonsten zwar ein schönes, aber eher ideenloses Album, das nur dazu dient, den ’83er Single-Klassiker «Tour de France» doch noch auf einem Album unterbringen zu können.

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